Diabetes im Alltag «Psyche und Bauch»

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hut
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Diabetes im Alltag «Psyche und Bauch»

Beitrag von hut »

Kindlicher Diabetes im Alltag
«Psyche und Bauch»

Dr. med. Paolo Tonella, Facharzt FMH für Kinder- und Jugendmedizin, leitender Arzt Diabetologie / Endokrinologie am Kinderspital Luzern referierte am 27. Februar 2018 vor Eltern der Diabeteskids Zentralschweiz
http://www.diabetes-kids.ch/ und https://www.facebook.com/search/top/?q= ... ralschweiz
zum Thema «Diabetes im Alltag - Psyche und Bauch»

http://www.diabetesclub.ch nahm an der Veranstaltung der Diabeteskid Zentralschweiz teil und fasst die dargelegten Schwerpunkte kurz zusammen:

Diabetes und Psyche
Bei Kindern mit Diabetes besteht ein erhöhtes Risiko für die Neu-Entwicklung von Anpassungsstörungen, oder für das Weiterbestehen von bereits vorliegenden Anpassungsstörungen.
Im Teenager-Alter liegt ein erhöhtes Risiko vor, psychiatrische Störungen zu entwickeln, Mädchen sind häufiger betroffen, als Knaben. Das Risiko, psychiatrische Störungen zu entwickeln, wird als leicht, bis mittel bezeichnet. Es wird davon ausgegangen, dass ein Zusammenhang mit HbA1c besteht ((je schlechter der HbA1c , je höher das Risiko).
Der Effekt ist in neueren Studien, wahrscheinlich infolge besseren Diabeteseinstellungen dank technischen Fortschritten, weniger ausgeprägt.
Eine Analyse von 13 Studien (1992 bis 2007) ergab, dass Essprobleme bei Diabetesbetroffenen häufiger auftreten, als bei Nichtdiabetikern. Bis zu 7% aller Mädchen mit Diabetes sind davon betroffen (doppelt so viel wie bei der nichtdiabetischen Kontrollgruppe). Auch bei der Entwicklung von Essstörungen, Anorexie und Bulimie besteht ein Zusammenhang mit dem HbA1c.

Eine Studie an 132 Jugendlichen mit Diabetes und an 131 Jugendlichen ohne Diabetes (2 Kontrollen im Alter von 12 und 19 Jahren) ergab, dass in der Kontrollgruppe ohne Diabetes eine starke elterliche «Einmischung» zu: häufigeres Rauchen, schlechtere Schulleistungen, Depression führte.
Bei den Diabetikern war eine intensivere «Einmischung» der Eltern mit dem umgekehrten Effekt verbunden: weniger Depression, mehr Selbstwertgefühl!


Schulleistungen
Diabetische Kinder haben in der Schule häufiger Teilleistungsstörungen und Lernschwierigkeiten, Risikofaktoren dazu bilden Diagnose vor 4.Lebensjahr und schwere Hyper-/Hypoglykämien. Es konnte festgestellt werden, dass besseres HbA1c bei guter Instruktion der Lehrkräfte und des Umfelds (Kollege/innen, Boy-/Girlfriends, Peergruppe, usw.) ein besseres HbA1cder betroffenen Kinder erreicht werden konnte.

Stress und HbA1c
Patienten mit höherem HbA1c leiden häufiger unter Angststörungen und Depressionen (Ursache oder Folge?). Unvoraussehbarer Stress hat die grösste negative Wirkung auf die Gesundheit, in Stress-Situationen haben die Betroffenen weniger Zeit, um sich um den Diabetes zu kümmern. Vor allem bei "ineffektiven" Lösungsstrategien (Angst, Wut, Ungeduldigkeit) entsteht ein HbA1c-Anstieg.
Bei guten Problemlösungs-Strategien (Stoizismus, Pragmatik, Negation) entwickelt sich ein weniger negativer Einfluss auf HbA1c.

"Diabetes-Burnout"
Unrealistische Erwartung, durch intensives Diabetes-Management sämtliche BZ-Werte im Grünbereich zu haben, genaues Befolgen aller Empfehlungen, und trotzdem nicht optimaler HbA1c, das Gefühl, dass eine gute Einstellung trotz grössten Bemühungen gar nicht möglich sei sind wesentliche Risikofaktoren, welche zu einem "Diabetes-Burnout" führen können.
Realistische Erwartungen wie z.B. mind. 1 BZ pro Tag unter 10mmol/L, Akzeptanz von schwankenden BZ-Werten und die Vermeidung von häufigen Hypoglykämien helfen wesentlich dabei, die Schule oder die Lehrstelle ohne viele Diabetesbedingte Einschränkungen "anzupacken"

Rolle der Familie
Ein guter Zusammenhalt, Unterstützung, Einheitlichkeit im Diabetes-Management und "Team-artiges" wirken bewirkt ein besseres HbA1c.
"Broken home", Konflikte, fehlende Einheitlichkeit im Diabetes-Management, Monoparentale Familien, ethnische Randgruppen, niedrige sozioökonomische Schichten können das Risiko eines schlechteres HbA1c erhöhen.
Bei bis zu einem Drittel der Mütter treten nach der Diagnosestellung reaktive Depressionen aufm welche glücklicherweise meist von kurzer Dauer sind.

«Teufelskreis»
HbA1c schlecht -> Depression -> Ess-Störungen -> spärliche BZ-Kontrolle -> häufigere Ketoazidosen
Diabetes und Psyche.jpg
Diabetes und Zöliakie
-1 bis 10% aller Diabetiker (Nichtdiabetiker 1-2 von 1000) weisen eine Zöliakie auf, häufig bei Erstdiagnose oder in den 4 folgenden Jahren, bis 3x häufiger bei Kindern jünger als 4 Jahre, am häufigsten innert 2 Jahren nach Diagnosestellung. Die Symptome sind: Durchfall, Blähungen, Verstopfung, gespannter Bauch, Gedeihstörung, niedriger Insulinbedarf, Wachstumsverlangsamung. Oft ohne Beschwerden!

Diabetes und Schilddrüse
Eine Schilddrüsen-Unterfunktion liegt bei 3 bis 8% aller Diabetiker vor. Die Schilddrüsen-Antikörper sind bei 25% aller Patienten im 1.Jahr nach Diagnose erhöht. Auch eine Schilddrüsen-Überfunktion kann nicht ausgeschlossen werden. Beide Zustände können Bauchschmerzen, evtl. Verstopfung oder Durchfall hervorrufen!

Diabetes als Dampfkochtopf

Dr. Tonella verglich den kindlichen Diabetes mit einem Dampfkochtopf: Der Diabetes ist im Dampfkochtopf vorhanden und «brodelt» dort von sich hin. Was sich dabei alles entwickelt, entzieht sich unserer Kenntnis, wir können nicht in den Dampfkochtopf hineinschauen. Der Rat von Dr. Tonella: Ruhig Blut bewahren, nicht in Panik geraten und nicht jedes Ereignis als Nebendiagnose zu betrachten. Nicht jede Stimmungsschwankung eines Kindes oder Jugendlichen mit Diabetes ist eine Depression!

Dank
diabetesclub.ch dankt Dr. med. Paolo Tonella ganz herzlich für sein Engagement für Kinder mit Diabetes und für die verständliche und anschauliche Darlegung des Themas, welches für Eltern von diabetesbetroffenen Kindern, aber auch für die gesamte «Diabetesszene» sehr wichtig ist.
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Wer einen Tippfehler findet, darf ihn behalten, ich besitze noch einen genügenden Vorrat davon!
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sonnenblume
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BZ-Messgerät: Freestyle lite
Insulin: Humalog

Re: Diabetes im Alltag «Psyche und Bauch»

Beitrag von sonnenblume »

Herzlichen Dank für die Zusammenfassung lieber Hut. :clap:
Wenn das Leben dir ein Diabetes-Monster gibt, stehe auf und spiele mit ihm!
Löwenzahn

Re: Diabetes im Alltag «Psyche und Bauch»

Beitrag von Löwenzahn »

Vielen Dank, HUT!
Sehr interessant, wenn auch teilweise nicht gerade beruhigend. Ich habe machmal den Eindruck, mit Diabetes hat man ein höheres Risiko für alle möglichen weiteren Erkrankungen. Deshalb vermeide ich meistens das Lesen von Statistiken.
Im Alltag mache ich mir diese Sorgen immer weniger. Bringen tut‘s eh nichts. Und wir Eltern von Diabetes-Kinds können die Energie besser verwenden [emoji3]
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